R. Delaunay: „ÜBER DAS LICHT“

Im Verlauf des Impressionismus wurde in der Malerei das Licht entdeckt, das aus der Tiefe der Empfindung erfasste Licht als Farbenorganismus aus komplementären Werten, aus zum Paar sich ergänzenden Massen, aus Kontrasten auf mehreren Seiten zugleich. Man gelangte so über das zufällig Naheliegende hinaus zu einer universalen Wirklichkeit von größter Tiefenwirkung (nous voyons jusqu‘aux ötoiles). Das Auge vermittelt nun als unser bevorzugter Sinn zwischen dem Gehirn und der durch das Gleichzeitigkeitsverhältnis von Teilung und Vereinigung charkteri-sierten Vitalität der Welt. Dabei müssen sich Auffassungskraft und Wahrnehmung vereinigen. Man muss sehen wollen.

Mit dem Gehörsinn allein wären wir zu keinem so vollkommenen und universalen Wissen vorge-drungen, und ohne die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Gesichtssinnes wären wir bei einer Sukzessivbewegung stehen geblieben, sozusagen beim Takt der Uhr. Bei der Parität des Gegen-standes wären wir verblieben, beim projizierten Gegenstand ohne Tiefe.
In diesem Gegenstand lebt eine sehr beengte Bewegung, eine simple Folge von Stärkegraden. Im besten Fall, kann man, bildlich gesprochen, zu einer Reihe aneinandergehängter Wagen gelangen. Architektur und Plastik müssen sich damit begnügen.

Auch die gewaltigsten Gegenstände der Erde kommen über diesen Mangel nicht hinweg, und wäre es auch der Eiffelturm oder der Schienenstrang der Weltstädte als Sinnbilder größter Flächen-Ausdehnung.

Solange die Kunst vom Gegenstand nicht Ios kommt, bleibt sie Beschreibung, Literatur, erniedrigt sie sich in der Verwendung mangelhafter Ausdrucksmittel, verdammt sie sich zur Sklaverei der Imitation. Und dies gilt auch dann, wenn sie die Lichterscheinung eines Gegenstandes oder die Lichtverhältnisse bei mehreren Gegenständen betont, ohne dass das Licht sich dabei zur darstellerischen Selbständigkeit erhebt.

Die Natur ist von einer in ihrer Vielfältigkeit nicht zu beengenden Rhythmik durchdrungen. Die
Kunst ahme ihr hierin nach, um sich zu gleicher Erhabenheit zu klären, sich zu Gesichten vielfachen
Zusammenklangs zu erheben, eines Zusammenklangs von Farben, die sich teilen und in gleicher
Aktion wieder zum Ganzen zusammen schliessen . Diese synchronische Aktion ist als eigentlicher und einziger Vorwurf (sujet) der Malerei zu betrachten.

Robert Delaunay

Deutsche Uebersetzung des vorsthehend faksimilierten Manuskripts durch Paul Klee. Veröffent-
licht in « Der Sturm »‚ Nr. 144 145, Berlin, Januar 1913.

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